von Adrian Zeller, Journalist:
Im «Reise- und Handlexikon der Schweiz» von 1854 heisst es über die Äbtestadt: «Kleine Stadt mit 1555 Einwohnern in einer fruchtbaren, angenehmen Gegend. Hat grosse Durchfuhr und bedeutende Wochen- und Jahrmärkte.» Seither sind 170 Jahre vergangen, in dieser Zeit hat die Stadt eine tiefgreifende Metamorphose durchlaufen, die weiter anhält. Knapp 25 000 Menschen leben mittlerweile in Wil, sie wollen politisch repräsentiert werden.
Der Platz zwischen Hof und Baronenhaus wird als Goldener Boden bezeichnet. Dieser Name geht auf jene Phase zurück, als Handwerker, Ladeninhaber und Gastwirte in der Altstadt ein gutes Auskommen hatten. Von dieser Zeit berichtet etwa Jacob Lorenz, der um 1905 vorübergehend als Redaktor der Zeitung «Wyler Bote» wirkte. Er fand Anschluss bei der Familie Sailer, die in der Altstadt eine Buchbinder-Werkstatt mit Papierwaren-Handlung führte. Man verbrachte die Freizeit in den Wohnräumen im ersten Stock mit Familienspielen. «Es war ein behagliches Zusammensein und Geborgensein», erinnerte sich Lorenz in seiner Autobiografie. Wil bestand damals im Wesentlichen aus der Altstadt, in der eine überschaubare ziemlich homogene Gemeinschaft lebte. Das städtische Leben spielte sich hauptsächlich dort ab.
Altstadtbewohner arbeiten ausserhalb
Dieses Beispiel veranschaulicht den Wandel Wils: Besucherinnen und Besucher loben heute die Schönheit des historischen Stadtkerns, wundern sich aber, wie unbelebt er wirkt. Die einstige typische Einheit von Arbeiten und Wohnen, die Lorenz erlebt hat – unten das Ladengeschäft, die Gaststube oder die Werkstätte, oben die Wohnräume – sind längst Geschichte. Viele der heutigen Bewohner der Altstadt arbeiten ausserhalb. Einzelne Ladengeschäfte finden mittlerweile über längere Zeit keine neuen Mietenden mehr. Lediglich am Mai-, Othmars- und Adventsmarkt sowie am Samstagsmarkt wirkt die Altstadt heute noch als Kundenmagnet.
Die Bedeutung von Wil als regionaler Einkaufsort, von der der Reiseführer-Autor 1854 schreibt, hat merklich abgenommen. Wie Zählungen eines Ladeninhabers zeigten, hat sich die Zahl der Passanten an der Oberen Bahnhofstrasse in den letzten Jahren deutlich verringert. Zu dieser Entwicklung hat auch der digitale Handel beigetragen: Seit 2012 hat sich der Umsatz im Onlinehandel in der Schweiz nahezu verdreifacht, er beträgt mittlerweile rund 14 Milliarden Franken. Zudem werden die Supermärkte in Rickenbach und in Gloten mit Parkmöglichkeiten gut frequentiert. Das veränderte Kundenverhalten kann der Wiler Politik nicht gleichgültig sein, es betrifft die wirtschaftliche Basis der Stadt.